Das höre ich am liebsten. Wenn ich in einem Dorf zu Füßen einer Burg ankomme, bin ich oft sehr müde. Trotzdem zügele ich mein Pferd auf dem Marktplatz und stimme ein Lied an, denn das lieben die Leute: Meine Stimme, meine Verse, die Melodie, die Neuigkeiten, die ich singend erzähle.
Ihr fragt euch vielleicht, stolze Herren und edle Damen, ob man mit Gesang wirklich so viel Geld verdient, dass man sich so einen herrlichen Pelzmantel leisten kann, wie ich ihn trage. Ihr ahnt es schon: Die Bauern machen mich nicht reich. Sie reichen mir Brot und hölzerne Schüsseln mit kleinen Fleischbrocken, auch kleine Stücke von getrocknetem Obst und natürlich einen Krug mit Bier. Ich esse und trinke und singe, scherze mit ihnen und beantworte ihre vielen Fragen.
Ich lobe die artige kleine Knochenflöte, die sich ein junger Mann geschnitzt hat und bewundere die ebenmäßig runde Rassel, die seine Schwester in der Hand trägt. Die beiden begleiten mein populärstes Lied im Rhythmus meines Gesangs, und die Flöte nimmt meine Wendungen auf und wiederholt sie.

Dieses Lied kennen alle auf dem Platz, sie summen mit und wiegen sich, vor allem, wenn ich vom getragenen Teil in den lebhafteren wechsele. Denn ich erzähle von der größten Reise, die man zu meiner Zeit unternehmen kann: Der Reise nach Palästina. Dort ist unser Herr Jesus Christus Mensch geworden und leibhaftig auf der Erde gewandelt.
Doch dann – dann breche ich auf zur Burg. Der Burgherr und seine Gemahlin erwarten mich ebenso sehnsüchtig wie die Bauern. Doch um ihre Gunst zu erringen, muss ich mich mehr anstrengen. Den ganzen Abend über werde ich die altbekannten, aber auch neu erfundene Lieder singen und so manchen kleinen Spottvers einbauen. Hoffentlich verstehen alle meine Anspielungen richtig und können darüber lächeln!

Am ritterlichen Hof gibt es durchaus Herren, welche es verstehen, ein Instrument zu spielen. Fiedel, Laute und Harfe erklingen, wenn meine Stimme gerade nicht zu hören ist. Und sie antworten, wenn sie meine Melodie hören, verzieren die von mir vorgegebenen Töne und Phrasen, es ist wie ein Gespräch. Die Musik meiner Lieder ist zum großen Teil bekannt, doch welchen Text ich darauf singe, welche Geschichte ich erzähle – das erfinde ich bei jedem Auftritt neu. Und so hören alle atemlos und vergnügt zu.
In einer Ecke wird Wurfzabel gespielt, in einer anderen klackern leise die Würfel. Ich singe von Ereignissen in fernen Ländern, von politischen Schachzügen, von Kampf und Streit und schließlich – von der Liebe. Das ist der Moment, wenn alle anderen Stimmen verstummen, die hohen Herren ins Licht der Kerzen blicken und sich wegträumen an die Seite einer schönen und edlen Frau. Wenn ich „„Herzeliebez vrouwelin“ anstimme, glitzert in manchem Auge ein Träne. Ich bin sehr stolz auf dieses Lied, denn seine Worte beschreiben etwas ganz Neues: Die Liebe zwischen einem einfachen Mädchen und einem Minnesänger.

Wer hat mich das Singen und Dichten gelehrt? Ich habe es fast vergessen, aber natürlich hat mich ein anderer Sänger gelehrt und ich durfte am königlichen Hof in Wien meine Kunst üben und erproben. Danach bin ich viel gereist, habe bei verschiedenen Königen und Fürsten gelebt und dort vielen anderen Sängern zugehört. Einige von ihnen haben meine Lieder notiert. Ich selbst schreibe nichts auf, ich möchte einfach nur singen und dichten, um die Augen meiner Zuhörer glänzen zu sehen.
Text: Ellen Löchner