Ritter, Bauer, Edeldame

Das eine Mittelalter  – gibt es gar nicht. Unter diesem Begriff werden Epochen mit unterschiedlichen räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen zusammengefasst, die einen Zeitraum von nicht weniger als 1000 Jahren umspannen: Etwa von 400 (wenn das Römische Reich zerfällt) bis 1400 n. Chr. Trotzdem hat jede und jeder von uns Bilder im Kopf, wenn man den Begriff „Mittelalter“ hört, allen voran von Rittern: Ritter tragen eine Rüstung, die so schwer ist, dass sie mit einem Kran auf ihr Pferd gehievt werden müssen. Sie reiten den ganzen Tag munter durch die Gegend und kämpfen. Sie singen Lieder für schöne Burgfräulein. Die Burgfräulein sind sehr keusch und haben im Übrigen nichts zu sagen, sind naiv und eher schön als klug … Diese Bilder entstehen, weil wir – und wie könnte es anders sein! – aus unserer heutigen Sicht zurückschauend versuchen, uns in Ritter und Burgfräulein hineinzuversetzen. Unsere Rückschau ist geprägt von sechs Jahrhunderten Mittelalter-Rezeption und ihren Erkenntnissen, Missverständnissen und Instrumentalisierungen.

Wie war es denn nun wirklich? Können wir das überhaupt nachempfinden?

Die Ausstellung „Ritter, Bauer, Edeldame“ möchte ihren Besucher*innen genau dieses Nachempfinden ermöglichen. Indem sie von der Annahme ausgeht, dass es bestimmte berufliche und soziale Positionen damals wie heute gibt, verbindet sie die weit entfernte Vergangenheit mit der Gegenwart. Es heißt also, einzusteigen in die Lebenswelt des Mittelalters! Und mit Geschick, Geduld, Wissbegierde, Interesse für Mode und Musik sich als ausdauernd auf dieser Reise ins Mittelalter zu erweisen. Ganz besonders lenkt die Gegenüberstellung von moderner Technik in den Spielstationen und archäologischen Funden in den Vitrinen das Augenmerk auf die Ferne und Einzigartigkeit der mittelalterlichen Welt.

Augen-merk: Die Ausstellungsgestalter der Firma Bruns (Bergeijk, Niderlande) lassen so oft wie möglich Gegenstände mit ihren Materialeigenschaften, Farben und Formen sprechen. Sie laden uns ein, hinzuschauen und die Gegenstände mit denen zu vergleichen, die wir kennen. Was auf den ersten Blick wie eine Regalwand aus einem namhaften schwedischen Möbelhaus wirkt, entpuppt sich als ein riesiges Memory-Spiel.

Hinter den Spiegelscheiben des Vitrinenschrankes warten Gegenstände in mittelalterlicher und moderner Variante darauf, zusammengeführt zu werden. Foto: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer
Hinter den Spiegelscheiben des Vitrinenschrankes warten Gegenstände in mittelalterlicher und moderner Variante darauf, zusammengeführt zu werden. Foto: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer

Gebrauchsgegenstände in ihrer mittelalterlichen und modernen Erscheinungsform sollen kombiniert werden. Da findet man z. B. Schlittknochen – die Vorläufer der modernen Schlittschuhe. Sie wurden benutzt, um längere Strecken auf zugefrorenen Flüssen zurückzulegen. 

Schlittknochen, ihre Befestigung am mittelalterlichen Schuh und ein moderner Schlittschuh im Vergleich. Bildnachweise: © GDKE, LA-Speyer, P. Haag-Kirchner / © GDKE, LA-Speyer, J. Winkelmann / Von Lord van Tasm - Eigenes Werk, CC BY-S 3.0,https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67435167
Schlittknochen, ihre Befestigung am mittelalterlichen Schuh und ein moderner Schlittschuh im Vergleich. Bildnachweise: © GDKE, LA-Speyer, P. Haag-Kirchner / © GDKE, LA-Speyer, J. Winkelmann / Von Lord van Tasm – Eigenes Werk, CC BY-S 3.0,https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67435167                                                                                                                                              

Wer schon einmal Schlittschuh gelaufen ist und in diese Vitrine schaut, fragt sich wahrscheinlich, wie man sich mit diesen Dingern fortbewegen konnte. Der moderne Schlittschuhläufer stößt sich nämlich mit den messerscharfen Stahlkufen, die in die oberste Schicht des Eises einschneiden, am Eis ab. Bei diesen unten auf breiter Fläche glatt geschliffenen Schlittknochen geht das nicht. Wer kopfschüttelnd nach Hause geht und dort das Internet befragt, stellt fest: Man hat sich mit einem beschlagenen Stock vom Eis abgestoßen, und dieser musste zwischen den beiden Füßen eingestochen werden. Der eine oder andere Gegenstand im Memory wird dem Besucher ein Rätsel über den buchstäblichen „Passt“-Moment hinaus aufgeben.

Damit uns, den modernen Menschen, der Einstieg in die mittelalterliche Welt gelingt, sind sieben Figuren verschiedenen Bereichen des mittelalterlichen Lebens exemplarisch zugeordnet: Beim Bauern geht es ums Essen, beim Handwerker um die Herstellung von Kleidung und Gebrauchsgegenständen, bei der Händlerin um Handels- und Vertriebswege, und so weiter. Diese Figuren tragen moderne Kleidung, auch der Ritter. Hier stößt die Fiktion der Blaupause im modernen Leben an ihre Grenzen: Die Ritter gibt es nicht mehr, und altertümliche Rüstungen werden auch nicht mehr getragen. Wir würden den eleganten jungen Mann am ehesten für einen Sportler halten, und folgerichtig steht in der Koje nicht die Fehde, sondern das Turnier im Mittelpunkt.

 

Ein sportlicher Rollenspiel-Teilnehmer blickt uns an – ein Schwert ist und bleibt aber ein Schwert. Rechts wird der moderne Turnierplatz vorbereitet. Bildnachweis © Museon, The Hague / © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer / © GDKE RLP, LMMZ, Krisztina Péró
Ein sportlicher Rollenspiel-Teilnehmer blickt uns an – ein Schwert ist und bleibt aber ein Schwert. Rechts wird der moderne Turnierplatz vorbereitet. Bildnachweis © Museon, The Hague / © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer / © GDKE RLP, LMMZ, Krisztina Péró

 

Was gibt es zu sehen? Vitrinen mit archäologischen Exponaten sowie einem äußerst detailgetreuen Modell der Godesburg  zeigen das, was tatsächlich erhalten geblieben ist. Dazu treten Spielstationen, die unterschiedliche Kombinationen von Geschicklichkeit, Nachdenken und Wiedererkennen erfordern. Exemplarisch stelle ich hier einige vor.

Abschied von der Burgherrin zu nehmen hieß, ihr die Verantwortung für die Burg, ihre Bewohner und die Bauern der Umgebung zu übertragen. Bildnachweis: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer
Abschied von der Burgherrin zu nehmen hieß, ihr die Verantwortung für die Burg, ihre Bewohner und die Bauern der Umgebung zu übertragen. Bildnachweis: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer

 

Die vielen Aspekte des Lebens auf der Burg werden in der Holobox am Beispiel einer Burgherrin verdichtet. Eine holografische Spielszene in mittelniederländischer Sprache zeigt, wie der Ritter Abschied von seiner Frau nimmt und ihr die Geschäfte auf der Burg überträgt. Der Schlüssel zum Verwalterbuch geht in ihre Hände über. Damit ist der Gehorsam aller auf der Burg durch die Verwaltungsmacht der Burgfrau gesichert. Moment mal – waren im Mittelalter die Frauen nicht völlig rechtlos und unselbstständig? Offensichtlich nicht!

In diesem hübschen Mini-Theater werden eher Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben: Und wie war das bei der Bauersfrau? Gab es wirklich Händlerinnen? Wie war das mit Malerinnen und Musikerinnen? Warum konnten Frauen keine Ritter werden? Konnten ebenso viele Frauen wie Männer lesen (oder nicht lesen)? Im Mittelalter gaben die wenigsten Personen schriftlich über ihr eigenes Leben Bericht, Chronisten beschrieben das Leben der „Großen“ in einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit. Der „Bericht der Edeldame“ fehlt uns ebenso wie der der Bauersfrau. Mutmaßen können wir nur mithilfe der Gegenstände, welche die Zeit überdauert haben, sowie anhand von Schriftquellen, Wandmalereien und Tafelbildern. Der auffälige Kontrast zwischen der altertümlichen Sprache und der modernen Kleidung der Figürchen macht stutzig und lenkt das Augenmerk auch auf die Gegenwart und die Rolle der Frau in Politik und Gesellschaft heute.

 

 

 

 

Die weiße Hand am oberen Ende des Bildschirms lädt dazu ein, die Dame mit einem Wisch anzukleiden. Bildnachweis: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer
Die weiße Hand am oberen Ende des Bildschirms lädt dazu ein, die Dame mit einem Wisch anzukleiden. Bildnachweis: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer

Und da Rollen sich immer an äußeren Merkmalen und vor allem der Kleidung zeigen, kann man an dieser Station wie von Zauberhand gelenkt eine Dame anziehen. Geschickt ausgewählte Hintergründe lassen uns schnell erkennen, was hier zusammenpasst bezüglich Umgebung, Kleid, Kopfbedeckung und Accessoire. Lesen können muss man nicht, um an dieser Station Spaß zu haben – nur möglicherweise auf einen Tritthocker stiegen, damit die Zauberhand weit genug nach oben reicht.

Auch wenn keine genaue Datierung möglich ist, beeindrucken viele Gegenstände in den Vitrinen mit ihrer Zerbrechlichkeit, Einfachheit und Anmut. Wer solches herstellte, musste – obwohl wahrscheinlich des Lesens und Schreibens nicht mächtig – höchstes handwerkliches Geschick und Sinn für Schönheit haben. Fast alle Gegenstände zeigen ein Mehr an Gestaltung, als es für ihre bloße Benutzbarkeit nötig wäre. Wir würden das heute Design nennen.

Ob der Spielstein beim Wurfzabel gebraucht wurde? Bildnachweis: © GDKE, LA-Speyer, P. Haag-Kirchner / https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848
Ob der Spielstein beim Wurfzabel gebraucht wurde? Bildnachweis: © GDKE, LA-Speyer, P. Haag-Kirchner / https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848

Ein schönes Beispiel für so einen Gegenstand ist ein Spielstein aus Bein, der liebevoll verziert wurde. Das Spiel dazu hieß Wurfzabel und war dem heutigen Trictrac oder Backgammon verwandt. „Zabel“ kommt vom römischen Wort „Tabula“ – zu jeder Zeit haben Menschen Spiele gespielt, die sowohl Glück als auch strategisches Geschick erforderten. Im Codex Manesse sieht man zwei Adlige beim Spiel.

Spielstein, Murmeln, Knochenflöte, Rassel und Würfel brauchte man, um sich in den wenigen Mußestunden zu unterhalten. Bildnachweis: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer
Spielstein, Murmeln, Knochenflöte, Rassel und Würfel brauchte man, um sich in den wenigen Mußestunden zu unterhalten. Bildnachweis: © GDKE RLP, LMMZ, Ursula Rudischer

 

Zusammen mit Rassel, Knochenflöte, Würfeln und Murmeln weist der Spielstein darauf hin, dass es im Alltag, in welchem Arbeit, Familienleben und Gebet verwoben waren, Gelegenheit zum Spiel gab: Freizeit, wie wir heute sagen würden. Der spielende Mensch ist Kind beider Zeiten, und an allen Stationen kann man seinen Spieltrieb ausleben – ein Drang, der in der Zeit der Games und smart devices unmerklich, aber umfassend unseren Alltag bestimmt.

Doch die Aufteilung in Freizeit und Arbeitszeit war dem mittelalterlichen Menschen mit Sicherheit fremd. Ein Tag wurde nicht nach seinen Stunden bemessen, sondern danach, ob man sein „Tagwerk“ vollbracht hatte. Erst das industrielle Zeitalter mit Lohnarbeit und Maschinenlaufzeiten brachte die Trennung der Sphären von Arbeit und Freizeit mit sich.

Unsere Gemeinsamkeit mit dem mittelalterlichen Menschen und seiner Freude an der sorgfältigen Gestaltung von Spielgegenständen und dem Spiel steht diesem fundamentalen Unterschied im Lebensrhythmus, ja, in der Sinnfindung im Leben, gegenüber.

Bildnachweis: © Museon, The Hague
Bildnachweis: © Museon, The Hague

An dieser Stelle kann man sich fragen, wer von den in der Ausstellung „Ritter, Bauer, Edeldame“ vorgestellten Figuren: Bauer, Handwerker, Edeldame, Ritter, Händlerin, Mönch und Musiker überhaupt Zeit zum Spielen(wie oben gezeigt) und so ein schönes Brettspiel hatte. Und welcher dieser Figuren ähneln wir persönlich? Vermutlich keiner so richtig, sondern einigen ein wenig: Frauen steht heute jeder Beruf und jede gesellschaftliche Stellung offen. Mit Geld umgehen und reisen kann heute jede/r. Ein Instrument zu spielen und in bescheidenem Maße zu komponieren, ist jeder und jedem möglich, umso mehr dank der Computertechnik – wie die Station „Komponieren“ in der Ausstellung beweist. Wer gerne werkelt, bedient sich im Baumarkt und hämmert in der Garage. Wer sich im sportlichen Wettkampf erproben möchte, geht in einen Sportverein – oder dreht alleine seine Runden. Wer einen Garten hat, kann sein eigenes Bio-Gemüse anbauen, und wer sich für Naturheilkunde interessiert, kann aus Büchern und im Internet viel gesammeltes Wissen zusammentragen. Ein bisschen von allen Figuren können wir sein, und doch keine zur Gänze.

Text: Ellen Löchner