Kein Weihnachtsmärchen (Teil 4)

Falls Sie die ersten drei Teile des „Kein-Weihnachtsmärchens“ verpasst haben finden Sie sie hier:
Kein Weihnachstmärchen Teil 1 
Kein Weihnachtsmärchen Teil 2
Kein Weihnachtsmärchen Teil 3

Das Männlein hörte Stimmen: Zwei Frauen gingen durch die Wandelhalle mit der großen Glasfront. Es schnappte das Wort „römisch“ auf. Römisch, das waren diese Darstellungen von Personen mit umgehängten Tüchern! Da die Menschen ohnehin keine Notiz von ihm nahmen, konnte das Männlein den Damen ungehindert folgen, ein paar Fratzen dabei schneiden und welke Blätter aus dem Hof in der Arkade verstreuen, die es schon lange in der Hosentasche herumtrug. Und dann – stiegen die beiden in ein Auto. Das Männlein schlüpfte dazu, die Türen klappten und los ging die Fahrt.

Als sie nach einer Viertelstunde ausstiegen, standen sie vor einem großen Gebäude mit einem langgezogenen Hof. Das Männlein kannte diesen Ort schon und wusste, dass es dort viele Gemälde zu sehen gab. Doch heute ging es um etwas anderes: Wie schon die ganze Fahrt über sprachen die beiden Frauen von „Steinen“, und als sie nun die große, zugige Halle betraten, wurde das Männlein überwältigt von der Menge und Vielfalt an Steinen. Einige waren wunderschön bearbeitet und zeigten Figuren. Eine Frauenbüste mit kugelrunden Brüsten faszinierte das Männlein. Der Blick aus den großen, markanten Augen dieser Dame war so fordernd, dass es froh war, nicht direkt von ihm getroffen zu werden.

Von vielen der steinernen Darstellungen ging unterliegend eine kriegerische Anmutung aus, weil Waffen oder militärische Kleidung dargestellt waren und die Blicke der Figuren ernst. Das Männlein erinnerte sich an einen Stein in der großen ehemaligen Reithalle des Museums, auf dem ein römischer Krieger zu sehen war. Sein grimmiger Blick, die Hand, die den Speer fest umschloss, der Ausfallschritt, all das machte klar, dass dieser Krieger nicht zu stoppen war. Unwillkürlich hatte das Männlein die Hände in die Hosentasche gestopft und sich leicht vornüber gebeugt, um dem wehrhaften Steinkrieger Widerstand bieten zu können. Es hatte sich ein wenig in seiner Fantasie verloren, und das war gar nicht angenehm.

Doch da fand seine Augen Halt an einem wunderschönen Frauengesicht. Lockiges Haar umfloss den Kopf. Eine Strähne hatte der Künstler auf die Wange gelegt, um die Strenge der Gesichtszüge abzumildern. Während die große Steinbüste einen magischen, fast übersinnlichen Blick gehabt hatte, war dieses Gesicht durch und durch menschlich, zwar ernst, aber nahbar. Wangen und Kinn waren rund, die Lippen und Augenbrauen schön geschwungen. Das Männlein versuchte, sich vorzustellen, wie die Stimme der Dame klingen könnte, eine angenehmer Alt – und da kamen auch schon die beiden Museumskolleginnen wieder an ihm vorbei. Sie unterhielten sich weiter, waren bester Dinge und trugen beide ein Kistchen im Arm. Hinein ging es ins  Auto und zurück zum Museum.

Erfüllt von den neuen Eindrücken und voller Tatendrang hopste das Männlein aus dem Wagen. Wo war es lange nicht gewesen? Im ersten Stock rechts! Es war gar nicht so leicht, in diesen Raum hineinzuschlüpfen, doch eine der Museumsdamen nahm es unwissentlich mit. Und während sich das Männlein noch staunend umsah, wurde es von einem Vogelschrei aufgeschreckt. In einer Vitrine lag angestrahlt ein Vogel, wie er schöner nicht sein konnte. Eingefasst von einem Kranz zarter Ornamente, leuchtete sein Körper in Gold, Königsblau und Türkis. Das Männlein betrachtete den Vogel ehrfürchtig. Er hatte den Schnabel und die Klauen eines Adlers, aber auch das prächtige Gefieder und die Krone eines Pfauen. Ein mächtiges Fabelwesen schien er zu sein. 

Eingeschüchtert von so viel Glanz und Macht, wünschte sich das Männlein plötzlich einen ruhigen Platz für ein Nickerchen. Ein kuschliger Überwurf wäre nicht schlecht, auch ein Tierfell nähme es gerne. Und sein Magen wollte auch mal wieder gefüllt werden. Kurz ließ es die Schultern hängen und gab sich dem Gefühl hin, umsorgt werden zu wollen. Aber von wem? In der Abteilung mit den vielen unterschiedlichen Gemälden würde es bestimmt etwas zum Essen finden. Eilig flitzte es durch die Wandelhalle, bog nach rechts ab und mäßigte dann seinen Schritt, um auf einem der vielen Gemälde eine Mahlzeit zu entdecken.

Warum war ihm dieses Bild nicht schon früher aufgefallen? Das Männlein hörte die Stimmen der Erwachsenen, die sich leise unterhielten, gelegentlich untermalt vom leisen Wimmern des Babys. Die ganze Szene wirkte sehr friedlich und einladend. Hier würde es eine erholsame Pause einlegen. „Da!“ Ein kleiner Junge streckte ihm ein Stück Brot hin. Er hatte goldblonde Locken, schaute neugierig in die Welt und war dabei, sich einen Bissen abzurupfen. Die sich erwartungsvoll nähernde Hundeschnauze hatte der Kleine noch nicht bemerkt. Das Männlein hüpfte dem Hund in den Nacken, ließ sich einen ordentlichen Zipfel vom Brot reichen und rutschte dann hinunter bis zu dem weißen Tuch, in welchem das Baby eingewickelt war. Dort kroch es hinein, bis es an die weichen, warmen Füßchen gelangte. Der Säugling zog die Nase kraus. Das Männlein stopfte noch schnell das leckere Gebäck in sich hinein, dann fielen ihm die Augen zu.

Erfrischt wachte es nach einiger Zeit wieder auf. Im Traum war ihm ein älterer Junge mit blonden Locken begegnet; sie waren von einem Heiligenschein beleuchtet worden. „Johannes“ war der Name des Jungen, und er hatte einen Raben als Begleiter. Oder war das ein Adler? Das Gemälde war jedenfalls in dem großen Lager zu finden, das sich neben der riesigen Halle mit den Steinen befand, in die sein Ausflug heute geführt hatte. Er konnte sich gut daran erinnern, an die zarten Farben, die bauschigen Stoffe und den freundlichen Gesichtsausdruck, mit dem der große Junge seinen Vogel betrachtete.

Und dann gab es da noch das kleine Mädchen auf dem Hühnerhof. „Da“, rief es in kindlicher Universalsprache und zeigte auf die streitenden Hähne. Dann suchte es aber doch lieber wieder die Hand seiner Mutter, das Geflatter und Gelärme war ihm zu viel. Auf dem Bild war so Einiges los, viele der Vögel gurrten, gackerten, zischten, krächzten oder schrien. Einer der Hunde knurrte. An diesem Gemälde ging das Männlein nicht so gern vorbei und war ganz zufrieden damit, dass es gerade nicht ausgestellt wurde. Was ihm auf diesem Bild am besten gefiel, waren die Hände von Mutter und Kind. In dieser Berührung lag viel Wärme und Vertrauen.

Endlich kehrte das Männlein aus dem Reich der Fantasie ganz in die Wirklichkeit zurück, kugelte aus dem Windeltuch des Säuglings heraus und verabschiedete sich von der freundlichen kleinen Familie und ihren Besuchern. Ihm war noch ein anderes blond gelocktes Kind eingefallen, und das wollte es nun besuchen. Rüber, rauf, links, Lieblingsabteilung. An den Gläsern entlang zu der kleinen Sitzgruppe mit der schönen Lampe und dann rauf auf den Tisch. „Da bist du ja endlich!“, sagte der Knabe zu ihm. Das Männlein strahlte. Es wurde also nicht nur gesehen, sondern sogar erwartet! „Ich komme zu dir rein“, sagte es und kletterte über den prächtigen goldenen Rahmen ins Quadrat des Gemäldes. Der Wind wehte kühl und belebend, die Wolken zogen flott über den Himmel. „Ich wollte meinen Drachen stiegen lassen, er liegt da vorne. Komm mit“, sagte der kleine Junge mit vor Eifer geröteten Wangen. Dann stapfte er los, das Männlein hinterdrein. Wie gut, dass das Museum für die nächsten drei Tage geschlossen sein und sich niemand über das menschenleere Bild wundern würde.

– Ende –